JF: Erfolg durch Profillosigkeit (30.8.):
Die CDU ist die wahrscheinlich anpassungsfähigste und damit – was die Regierungszeit angeht – erfolgreichste Partei Nachkriegsdeutschlands. Sie gestaltet nicht, sondern ist Medium einer sich wandelnden Gesellschaft, deren ideologische Neuausrichtung andere bestimmen. Ein Kommentar von Dieter Stein
Vor 30 Jahren läutete Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) das Ende der Regierung Schmidt-Genscher ein. Das am 9. September 1982 publiziertes „Lambsdorff-Papier“ mit seinen Forderungen nach drastischen Einschnitten im Sozialstaat kündigte faktisch das Bündnis mit der SPD auf.
Als frischgebackenes Mitglied der Jungen Union fieberte ich am Bildschirm mit, als die Bundestagsdebatte zum konstruktiven Mißtrauensvotum am 1. Oktober übertragen wurde und Oppositionsführer Helmut Kohl (CDU) zum neuen Bundeskanzler gewählt wurde.
Als JU-Mitglied wollte ich mich für die deutsche Wiedervereinigung einsetzen, für Lebensschutz und eine konservative Familien-, Schul- und Wehrpolitik. Als Sohn eines Berufssoldaten empfand ich die wachsende gesellschaftliche Distanz zur Bundeswehr als ehrenrührig.
Die Enttäuschung, die auf die Wahl Kohls zum Bundeskanzler folgte, war ernüchternd. Die Hysterie, mit der von links vor Kohl und dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß gewarnt wurde, hatte die Erwartung genährt, daß ein gesellschaftspolitischer Richtungswechsel folgen würde.
Straßenschlachten tobten im alternativen Freiburg im Breisgau, wenn der bayerische Ministerpräsident es „wagte“, dort sprechen zu wollen. Das ganze Gerede von einer „geistig-moralischen Wende“ entpuppte sich als heiße Luft.
Mit Geißler und Süssmuth schob Kohl die Partei durch den Windkanal. Die Abspaltung der 1983 gegründeten konservativen „Republikaner“ durch zwei CSU-Bundestagsabgeordnete ist herausragendes Beispiel für den wiederkehrenden Wechsel aus Hoffnung und Enttäuschung, der die Union bis heute kennzeichnet.
Dennoch kristallisieren sich immer wieder Persönlichkeiten und Strömungen heraus, die erneut Hoffnung nähren. Man verkennt aber die CDU, wenn man ihr einen weltanschaulichen Kern zubilligt, den sie um den Preis schwerer Verluste zu verteidigen bereit wäre. Sie ist die wahrscheinlich anpassungsfähigste und damit – was die Regierungszeit angeht – erfolgreichste Partei Nachkriegsdeutschlands.
Die CDU gestaltet nicht, sie ist Medium einer sich wandelnden Gesellschaft, deren ideologische Neuausrichtung andere bestimmen. Sie paßt sich dabei, soweit es von ihr besonders aufmerksam beäugte Meinungsumfragen zulassen, mit geschmeidiger Verzögerung den Entwicklungen des Zeitgeistes an.
Der virulente Punkt ist, daß dieser Zeitgeist in einem metapolitischen Sinne fast ausschließlich von links bestimmt wird – weil es ein von den Unionsparteien unabhängiges und sich explizit als konservativ oder „rechts“ verstehendes intellektuelles Hinterland nur in Gestalt versprengter Inseln gibt; wozu CDU und CSU wiederum tatkräftig beigetragen haben. Vor einer politischen steht deshalb eine geistige Reorganisation dieses Hinterlandes.
Ergänzung 2.9.2012:
Was ist noch konservativ an der CDU? (31.8.):
„Macht als Selbstzweck, ohne dienende Funktion, ist eine Perversion der Politik.“ Ein Kommentar von Karl Feldmeyer
… Und weil sie [die CDU] Überzeugungen hatte, verfügten CDU und CSU auch über Persönlichkeiten, die fähig und willens waren, für ihre Überzeugungen öffentlich einzustehen, und die andere überzeugen konnten – eben, weil sie selbst überzeugt waren: der wortarme, aber glasklare Adenauer; der wortgewaltige Kurt-Georg Kiesinger (1904–1988), Karl Theodor zu Guttenberg (1921–1972), Franz Josef Strauß (1915–1988), um nur die herausragendsten zu nennen.
Das ist die Vergangenheit. Sie war innenpolitisch nicht zuletzt von dem Ringen um die größere Überzeugungskraft von Sachpositionen und Persönlichkeiten geprägt – was Heiner Geißler (Generalsekretär der CDU von 1977 bis 1989) den „Kampf um die Lufthoheit über den Stammtischen“ im Ton der Geringschätzung für die daran Beteiligten bezeichnete. Diesen Kampf hat die CDU längst verloren. Was sich schon unter Kohl abzeichnete, hat seine Nach-Nachfolgerin Angela Merkel zur Perfektion entwickelt. Unter ihr hat die CDU in den vergangenen zwölf Jahren alle inhaltlichen Positionen aufgegeben, mit denen sie sich von den übrigen Parteien grundsätzlich unterschied. Damit löste sie Widerspruch aus – was ihr dabei half, sich von den übrigen Parteien abzuheben und zu überzeugen. Das gilt auch für die Europa-Politik, das einzige Politikfeld, in dem sie bis heute Kontinuität wahrt. Aber hier bewegt sie sich im Geleitzug aller Parteien – kein Feld zur Profilierung. Den Kampf um die Lufthoheit hat die CDU längst aufgegeben. Sie versucht gar nicht mehr zu überzeugen – offenkundig, weil sie (Europa ausgenommen) keine Überzeugung mehr hat, zu der es ihr lohnend erschiene, sich öffentlich zu bekennen.
Der Wille zum Machterhalt
Der Verlauf dieser 2013 endenden Legislaturperiode ist eine Abfolge von Beweisen dafür. Überall dort, wo die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin zu der Überzeugung kam, es sei für ihre Machtsicherung von Nutzen, gab sie die bis dahin von ihr vertretenen Positionen auf und tat das Gegenteil von dem, was in ihrem Regierungsprogramm dazu vereinbart und von ihrer Partei beschlossen worden war – vor allem aber, was bis dahin unstrittige CDU-Politik gewesen war, in einigen Fällen sogar seit Adenauers Zeiten. Die markantesten Beispiele dafür sind die Familienpolitik und die Abschaffung der Wehrpflicht. „Vor der Familie hat die Politik haltzumachen. Da hat sie sich nicht einzumischen“, sagte Kohl vielmals – und es war so selbstverständlich für die CDU, dass man sich wunderte, wenn er es eigens aussprach. Und ebenso klar war das Leitbild dessen, was Familie sein sollte: Vater, Mutter und Kinder – nicht Alleinerziehende, nicht Patchwork-Familie, schon gar nicht gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Dieses Leitbild hat die CDU nicht nur aufgegeben, sie hat es verraten – still und heimlich, damit es möglichst niemand bemerken sollte. Dieser Verrat traf nicht nur die Familie; er traf die CDU selbst ins Herz. Wenn ihre Führung noch versucht hätte, ihren Schwenk zu erklären, hätte man darüber streiten und abwägen können. Dazu war sie zu feige, und so verkroch sie sich nach dem Anschlag. Wenn eine Partei jemals ihre Glaubwürdigkeit mit einer einzigen Tat vernichtet hat, dann die CDU mit dieser.
Eine lange Liste an Brüchen
… Die Abschaffung der Wehrpflicht gehört auch dazu. Sie ist nicht wichtig, weil wir hier und heute Wehrpflichtige brauchten, sondern weil sich mit ihr das Verhältnis von Staat und Staatsbürger verändert hat. Die Überzeugung, dass der Staatsbürger der geborene Verteidiger seines Landes ist, hat sich erledigt.
Die CDU – ein Etikett ohne Inhalt
… Wer keine Überzeugungen hat, kann auch nicht gegen sie verstoßen. Nur der Wille, an der Macht zu bleiben, bleibt davon ausgenommen. Macht als Selbstzweck, ohne dienende Funktion, ist eine Perversion der Politik. Das – und nicht nur der einzelne Verstoß in der Sache gegen konservative Prinzipien – macht heute das Verhältnis der CDU zu Konservativen aus, genauer: das der Vorsitzenden, die sich zur Alleinherrscherin aufgeschwungen hat. Die CDU 2012 – das ist ein Etikett ohne Inhalt.
Siehe auch: https://kreidfeuer.wordpress.com/2012/08/24/buch-die-patin-wie-angela-merkel-deutschland-umbaut/